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Übersicht - Reiseziele - Europa - Schweden

Henning Mankell
Tiefe

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Lars Tobiasson-Svartman ist Marineoffizier und Seevermessungsingenieur, ein Mann der Abstandmessung und des Abstandhaltens. Es ist die Zeit des Ersten Weltkriegs und er hat den militärischen Auftrag, in den Stockholmer Schären neue Fahrwasser auszuloten. Eines Tages trifft er auf einer der äußersten Schären eine einsam lebende Frau, Sara Fredrika. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch bald geht sein Auftrag zu Ende, und zu Hause erwarten ihn seine Frau und ein geordnetes Heim. Um zu Sara Fredrika zurückkehren zu können, ersinnt er einen dreisten Betrug. Wie immer bei Mankell entwickelt die Geschichte einen unwiderstehlichen und unheimlichen Sog.

Ein Mann zwischen zwei Frauen. Ein Mensch, der über Leichen geht, um ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen. Ein Roman über die finsteren Abgründe der Seele und das Böse in uns.

Leseprobe:
Er versuchte, sich den steigenden und sinkenden Bewegungen des Schiffs anzupassen. Er dachte an den Abend, an dem er im Wohnzimmer in der Wallingata über die Zeichnungen gebeugt saß. Da hatte eigentlich die Reise begonnen.
Es war Ende Juli, die Hitze drückend, alle warteten auf den großen Krieg, der jetzt unausweichlich schien. Die Frage war nur, wann die ersten Schüsse abgefeuert werden würden, und von wem, auf wen. Die Depeschenbüros der Zeitungen füllten ihre Schaufenster mit hitzigen Berichten. Gerüchte kamen auf und wurden verbreitet, niemand wußte etwas Genaues, aber alle meinten, gerade sie hätten die richtigen Schlußfolgerungen gezogen.
Über Europa flogen unsichtbare Telegramme zwischen Kaiser, Generälen und Ministern hin und her. Die Telegramme waren wie ein verirrter, aber gefährlicher Vogelschwarm.
Auf dem Schreibtisch hatte ein Zeitungsausschnitt mit der Photographie des deutschen Schlachtkreuzers Goeben gelegen. Der Dreiundzwanzigtausend-Tonner war das schönste, aber auch das furchterregendste Schiff, das er je gesehen hatte.
Seine Frau kam ins Zimmer und berührte behutsam seine Schulter. »Es ist schon spät. Was ist denn so wichtig?« »Ich studiere das Schiff, auf dem ich reisen werde. Da es für mich Zeit wird, an einen unbekannten Ort zu gehen.« Sie strich ihm immer noch über die Schulter. »Unbekannter Ort? Mir mußt du doch sagen können, wohin du fährst?« »Nein. Nicht einmal dir.«
Die Finger tasteten über seine Schulter. Ihre Hand streifte den Stoff kaum. Trotzdem spürte er die Bewegung im tiefsten Innern.
»Was kannst du von all diesen Strichen und Zahlen ablesen? Ich kann nicht einmal erkennen, daß es ein Schiff ist.« »Ich sehe gern das, was man nicht sehen kann.«
»Was ist das?«
»Die Idee. Das, was dahintersteckt. Der Wille vielleicht, der Ehrgeiz. Ich weiß es nicht sicher. Aber es gibt immer etwas dahinter, was man nicht sofort entdecken kann.«
Sie seufzte ungeduldig. Sie hatte aufgehört, mit den Fingern über seine Schultern zu streichen, und begann statt dessen, ungeduldig mit dem Zeigefinger gegen sein Schlüsselbein zu trommeln. Er versuchte zu deuten, ob sie ihm eine Mitteilung schickte.
Schließlich nahm sie die Hand weg. Er stellte sich vor, es sei ein Vogel, der aufflatterte.
Ich sage nicht die Wahrheit, dachte er. Ich vermeide es, zu sagen, wie es ist. Daß ich nach einem Punkt an Deck suche, wo man mich von der Kommandobrücke aus nicht sehen kann.
Was ich eigentlich suche, ist ein Versteck.

Er sah aufs Meer hinaus.
Fetzen von Nebelwolken, ein einsamer Keil von Seevögeln.
Erinnerungsbilder hervorzurufen erforderte Genauigkeit und Geduld. Was war dann geschehen, an jenem Abend im Juli, kurz bevor die Kriegserklärungen ausgefertigt wurden? Was an den Tagen der drückenden Hitze, in denen Millionen von jungen Menschen in Europa rasch mobilisiert wurden?
Er hatte die Zeichnungen eine knappe Stunde lang studiert, dann hatte er den Punkt gefunden, nach dem er suchte. Er wußte, wo er sein Versteck einrichten konnte.
Er schob die Zeichnungen beiseite. Von der Straße her hörte er ein unruhiges Brauereipferd wiehern. In einem der inneren Zimmer der großen Wohnung stellte Kristina Porzellanfiguren um, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Ein Klang wie von gedämpften Glocken. Obwohl sie seit neun Jahren verheiratet waren und selten ein Abend verging, an dem sie nicht in den Regalen umräumte, war noch keine Figur zu Boden gefallen und zerbrochen.
Aber danach? Was war dann geschehen? Er konnte sich nicht erinnern. Es war, als wäre in der Erinnungsflut ein Leck entstanden. Etwas war verronnen.
Der Juliabend war windstill gewesen, die Hitze drückend, die Temperatur hatte 27 Grad betragen. Vereinzelte Donnerschläge waren aus der Richtung von Lidingö zu hören gewesen, wo sich schwarze Wolken vom Meer her näherten.
Er dachte an die Wolken. Sie riefen in ihm eine Unsicherheit hervor: Ob er sich eine Wolkenformation leichter merken konnte als das Gesicht seiner Frau?
Er schüttelte die Gedanken ab und blinzelte ins Morgengrauen hinaus. Was sehe ich? dachte er. Dunkle Felseninseln an einem noch frühen schwedischen Herbstmorgen. Irgendwann in der Nacht hatte der wachhabende Offizier den Rudergänger angewiesen, den Kurs in eine südlichere Richtung zu verändern. Die Geschwindigkeit betrug sieben oder vielleicht acht Knoten.
Fünf Knoten bedeutet Frieden, dachte er. Sieben Knoten ist eine geeignete Geschwindigkeit, wenn man in einem geheimen und eiligen Auftrag ausgesandt wird. 27,8 Knoten bedeutet Krieg. Das ist die höchste Geschwindigkeit, die die Goeben erreicht, obwohl ihre Dampfmaschinen nach hartnäckigen Gerüchten an einem Konstruktionsfehler leiden, der zu einem schwerwiegenden Leck führt.
Ihm kam der Gedanke, daß man den Punkt vorhersagen kann, an dem ein Krieg begonnen, aber nie, wann er enden wird.

Von Steuerbord aus, wo er unter der Treppe versteckt stand, sah man die Landlinie im Licht der Morgendämmerung. Felsinseln und äußere Schären stiegen und sanken in der rauhen See.
Hier beginnt und endet ein Land, dachte Lars Tobiasson-Svartman. Doch die Grenzlinie ist gleitend, es gibt keinen exakten Punkt, an dem das Meer endet und das Land beginnt. Die Felseninseln sind über der Meeresoberfläche kaum sichtbar. In früheren Zeiten hatten die Seeleute diese Klippen und Felsbuckel für merkwürdige und entsetzliche Wasserungeheuer gehalten. So kann ich mir auch diese Klippen vorstellen, die langsam aus dem Meer steigen wie Tiere. Aber sie erschrecken mich nicht. Für mich sind diese Klippen, die zwischen den brechenden Wellen auftauchen, nichts anderes als nachdenkliche und völlig harmlose Flußpferde, von einer Art, die es nur in der Ostsee gibt.
Hier beginnt und endet ein Land, dachte er wieder. Ein Felsen, der bedächtig seinen Rücken streckt. Ein Felsen, der Schweden heißt.
Er ging vor zur Reling und schaute in das bleigraue Meer, das entlang der Wasserlinie des Zerstörers strudelte. Das Meer weicht nie zurück, dachte er. Das Meer verkauft nie seine Haut. Im Winter ist es wie gefrorene Haut. Der Herbst ist Stille, Erwartung. Plötzliche Ausbrüche heulender Winde. Der Sommer ist nichts anderes als ein flüchtiges Aufblinken im spiegelglatten Wasser.
Das Meer, die Landhebung, all das Unbegreifliche, ist wie die langsame Bewegung von der Kindheit bis zum Alter und zum Tod. In allen Menschen findet eine Landhebung statt. Aus dem Meer kommen all unsere Erinnerungen.
Das Meer ist ein Traum, der nie seine Haut verkauft.
Er lächelte. Meine Frau will es mir nicht zeigen, wenn sie weint. Vielleicht will ich ihr aus denselben Gründen, welche es nun auch sein mögen, nicht zeigen, wer ich bin, allein mit dem Meer.
Er kehrte zu seinem Platz in Lee zurück. Am Heck leerte ein verfrorener Matrose einen Eimer mit Essensresten ins Wasser. Möwen folgten dem Kielwasser des Schiffs wie eine wachsame Nachhut. Das Deck war wieder leer. Er betrachtete weiterhin die Felseninseln. Das Morgenlicht wurde stärker.
Die Felsen und Inseln sind nicht nur Tiere, dachte er. Sie sind auch Steine, die sich vom Meer loslösen. Es gibt keine Freiheit ohne Anstrengung. Aber diese Steine sind auch Zeit. Steine, die sich langsam aus dem Meer erheben, das niemals zurückweicht.
Er nahm eine Berechnung des Standorts vor. Vor elf Stunden hatten sie Stockholm verlassen. Er berechnete erneut die Geschwindigkeit und korrigierte sie auf neun Knoten. Sie befanden sich im nördlichen Schärengebiet von Östergötland, südlich von Landsort, nördlich vom Leuchtfeuer von Häradskär, südlich oder östlich von Fällbådarna. Er kehrte in seine Kabine zurück. Außer dem Matrosen hatte er niemanden von der großen Besatzung des Schiffs gesehen. Und natürlich hatte niemand ihn selbst oder sein Versteck entdeckt.
Er betrat die Kabine und setzte sich auf den Rand der Koje. In dreißig Minuten würde er in der Offiziersmesse frühstücken. Um halb zehn sollte er sich im privaten Salon des Befehlshabers einfinden. Fregattenkapitän Hans Rake sollte ihm die geheimen Instruktionen überreichen, die bisher im Tresor des Schiffs eingeschlossen waren.

Er fragte sich plötzlich, warum er so selten lachte.
Wessen war er beraubt worden? Warum dachte er so oft, er sei aus schlechtem Erz gegossen?

Er saß auf dem Rand der Koje und ließ den Blick langsam in der Kajüte herumwandern.
Sie maß zwei mal drei Meter, wie eine Gefängniszelle mit einem in Messing gefaßten Bullauge. Unter dem Geräteraum lag der Korridor, der die verschiedenen Teile des Schiffs miteinander verband. Nach der Konstruktionszeichnung, die er sich bis ins kleinste Detail eingeprägt hatte, gab es auch zwei wasserdichte senkrechte Schotten links von der Kajüte, aber zwei Meter tiefer im Schiff. Über seinem Kopf verlief die Treppe, die zur Mittschiffskanone an Steuerbord führte. Er dachte: Die Kajüte ist mein fester Punkt. Mitten in diesem Punkt befinde ich mich genau in diesem Augenblick. Irgendwann in der Zukunft wird es präzise Meßinstrumente geben, die die exakte Position der Kajüte in jedem gegebenen Augenblick nach Längen- und Breitengraden zu bestimmen vermögen. Die Position wird bis auf den Bruchteil einer Sekunde auf der Weltkarte festzustellen sein. Wenn es soweit ist, wird es keinen Platz mehr für Götter geben. Wer braucht einen Gott, wenn die exakte Position eines Menschen festgestellt werden kann, wenn die innere Position eines Menschen exakt mit der äußeren Position zusammenfallen wird? Wer davon lebt, Spekulationen über Aberglauben und Religion anzustellen, muß dann etwas anderes finden, um sich zu versorgen.
Scharlatane und Seevermesser stehen jeder auf seiner Seite der entscheidenden Trennungslinie, unwiderruflich. Nicht der Datumslinie oder dem Nullmeridian, sondern der Linie, die das Meßbare von dem trennt, was nicht gemessen werden kann und was daher auch nicht existiert.
Er zuckte zusammen. Irgend etwas an diesem Gedanken verwirrte ihn. Aber er kam nicht darauf, was es war.
Er nahm seinen Rasierspiegel aus dem Etui, das Kristina Tacker mit seinen Initialen und einer kindlich geformten Rose bestickt hatte.
Jedesmal, wenn er in den Spiegel sah, holte er tief Luft. Es war, als bereitete er sich auf einen Abstieg in große Tiefe vor. Er bildete sich ein, im Spiegel einem fremden Gesicht zu begegnen.

Stets durchzog ihn ein heftiges Gefühl der Erleichterung, wenn er seine Augen erkannte, die gerunzelte Stirn, die Narbe über dem linken Auge.
Er betrachtete sein Gesicht und dachte daran, wer er war. Ein Mann, der in der schwedischen Flotte Karriere gemacht hatte, mit dem Ehrgeiz, eines Tages die Hauptverantwortung für die Kartierung der geheimen militärischen schwedischen Fahrwasser übertragen zu bekommen.
War er sonst noch etwas?
Eine Person, die unentwegt Abstände und Tiefen vermaß, in der äußeren Wirklichkeit ebenso wie in dem Meer, das in seinem Innern noch nicht kartiert war.

Er strich sich mit der Hand über die Wangen, legte den Spiegel zurück ins Etui. Er war außerdem ein Mann, der seinen Nachnamen geändert hatte. Anfang März 1912 war sein Vater verstorben. Ein paar Wochen vor der Eröffnung der Olympischen Spiele im neugebauten Ziegelstadion von Stockholm beantragte er beim Königlichen Patent- und Registrierungsamt eine Namensänderung. Um den Abstand zu seinem verstorbenen Vater zu vergrößern, hatte er beschlossen, den Mädchennamen seiner Mutter zwischen seinen Vornamen und den Namen Svartman zu stellen. Seine Mutter hatte immer versucht, ihn vor dem launischen und ständig aufbrausenden Vater zu schützen. Sein Vater war tot. Aber auch tote Menschen können eine Bedrohung darstellen. Von nun an würde seine Mutter auch in seinem Namen als schützende Mauer gegenwärtig sein.
Er legte das Spiegeletui weg und klappte den Deckel einer Holzschachtel auf, die er auf den kleinen Tisch mit Sturmkante gestellt hatte. Darin befanden sich vier Uhren. Drei Uhren zeigten exakt die gleiche Zeit. Sie kontrollierten einander. Bei der letzten, die er von seinem Vater geerbt hatte, waren die Zeiger unbeweglich. Da war die Zeit stehengeblieben.

Er klappte den Deckel über den Uhren zu. Drei zeigten ihm die Zeit, die vierte den Tod.

Der Autor
Henning Mankell, wurde 1948 im schwedischen Härjedalen (bei Stockholm) geboren. Schon im Alter von 17 Jahren ging er an das Riks Theater und arbeitete bereits ab 1968 als Regisseur und Autor. Mit einer Reise nach Afrika erfüllte er sich 1972 einen Kindheitswunsch. Die Faszination für dieses Land ließ Henning Mankell auch in seiner schwedischen Heimat nicht mehr los. Seit 1990 widmete er sich den Fällen des Kommissar Wallander die mittlerweile in 15 Sprachen übersetzt wurden und auch in Fernsehen und Kino weltweit erfolgreich sind. Die Hälfte des Jahres verbringt der vielbeschäftigte Schriftsteller, Drehbuchautor und Intendant in Mosambique, wo er seit 1996 das "Teatro Avenida" in Maputo leitet. Das Theater, mit dem Henning Mankell auch schon auf erfolgreicher Europa-Tournee war, beschäftigt mittlerweile 70 Menschen und bildet Nachwuchstalente aus. Die Begeisterung für Afrika und die damit verbundenen Erfahrungen gaben Stoff für die Afrika-Romane "Der Chronist der Winde" (dt. 2000) und "Die rote Antilope" (dt. 2001). In "Tea-Bag" widmet sich der Schriftsteller erneut den Schwierigkeiten, die ein Großteil der afrikanischen Bevölkerung täglich zu bewältigen hat.
Als einer der international erfolgreichsten Autoren unsere Zeit wurde Henning Mankell mit unzähligen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem "Deutschen Bücherpreis" 2003 in der Kategorie "Publikumsliebling des Jahres".

Zsolnay Verlag, 2005, 366 S.
21,50 Euro
Hardcover, Aus d. Schwed. v. Verena Reichel
ISBN: 978-3-552-05343-4


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